Eines der vordringlichsten Probleme unserer Zeit, das Plastik, ist Thema und Material des Künstlers Reifenberg. Landschaften, gestaltet aus Plastiktüten. Aus abertausenden und per Hand zugeschnittenen Schnipseln des Wegwerfprodukts schafft er dystopische Szenerien, die eben dies darstellen: Ölfelder, auf denen der Natur der Rohstoff für das umweltschädliche Produkt entzogen wird, Müllhalden, auf denen Kinder noch Verwertbares suchen, und Wasseroberflächen, auf denen dichte Müllteppiche treiben. Die Ausstellung Garbage Matters bei Lachenmann Art Frankfurt bezieht mit dieser klar formulierten künstlerischen Position Stellung zu einer aktuellen Problematik, die uns alle angeht. Reifenberg arbeitet seit 1995 ausschließlich mit der von ihm entwickelten Technik, Bilder mosaikartig aus Einzelteilchen von geglätteten Plastiktüten zu konstruieren. Daraus ergeben sich dreidimensionale Materialschichten – ›Landscapes of Layers‹, in den Worten des Künstlers – die sich von der Flächigkeit eines Wandbildes entfernen. Eine wahre Herkulesaufgabe, die enorm viel Geduld und Feinarbeit erfordert. Über die Jahre hat Reifenberg eine riesige Sammlung von Plastiktüten aus der ganzen Welt zusammengetragen, die er in seinem Berliner Atelier in dutzenden Kisten nach Farben sortiert lagert. Für seine Motive, vom Kleinformat bis zum überdimensionalen Tableau umgesetzt, wählt er auf den Tüten die auszuschneidenden Bereiche nach Farbe, manchmal auch nach Schrift und Sprache aus, und bildet daraus zumeist millimetergroßes "Mikroplastik", aber auch größere Flächen. Ergebnis sind dreidimensionale Bildwelten, die zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion changieren und ihr Material selbst thematisieren. Garbage Matters. Müll hat eine Bedeutung, obwohl das eigentlich erst einmal widersprüchlich scheinen mag. Zu Müll werden schließlich Dinge, wenn sie ihren Nutzen, also ihre Bedeutung, verlieren. Jedoch verschiebt sich diese Bedeutung nur und verschwindet nicht, denn gerade der Plastikmüll kehrt wie ein Gespenst zu uns zurück. Er taucht inzwischen überall in der Natur auf, selbst in der Arktis¹ und in der Tiefsee. Von den aktuell weltweit jährlich rund 300 Millionen Tonnen² produzierter Kunststoffe, die oft nur wenige Minuten in Gebrauch sind, landen schwindelerregende 7,5 Millionen im Meer³. In seiner Ausstellung bei Lachenmann Art führt uns Reifenberg künstlerisch vor Augen, wie das einst gefeierte Material Plastik unseren Planeten drastisch verändert. Was für den Künstler vor zwei Jahrzehnten als Materialetüde begann, hat sich inzwischen nicht nur zu einer vollausgeprägten Künstlerhandschrift entwickelt, sondern weist heute auch einen starkenBezug zu einem universell relevanten Problem auf. Plastik wird mit Plastik beschrieben. Material und Thema sind in den Werken der Ausstellung inhärent verbunden. Sie bedingen einander und durchdringen sich, was die Relevanz der Arbeiten maximiert und ihre Aussagekraft auf mehreren Ebenen mit innerer Spannung auflädt. So sieht der Künstler das Material der Plastiktüte – meist Polyethylen oder Polypropylen⁴ – ambivalent, und zwar einerseits als ›unkaputtbar‹⁵ und kraftvoll in seiner Beschaffenheit, andererseits aber auch als zart und fragil in seiner Körperlichkeit. Der allgemein suboptimale Umgang des Menschen mit Ressourcen ist für Reifenberg durch die intensive Beschäftigung mit dem Material wie von selbst zum künstlerischen Thema geworden. Gar schreibt er dem Kunststoff Resopal, mit dem er in den späten 80er Jahren arbeitete, bevor er sich ab den 90er Jahren der Plastiktüte als Arbeitsmaterial zuwandte, eine philosophische Metapher zu. Mit seinem geschichteten Aufbau stehe es für ›eine gesellschaftliche Weltordnung zwischen der hölzernen Unterschicht, der stabilisierenden Mittelschicht und der hochglänzenden Oberschicht‹. Die facettenreiche Vieldeutigkeit in Reifenbergs Œuvre erkundet diese diversen thematischen Pfade mit scharfem Blick für die Details, verliert dabei aber nie die Verbindung zu ihrem Ausgangspunkt, dem Material. Die Ausstellung Garbage Matters regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern fordert implizit auch zum Handeln auf. Jedes Kleinstteilchen Plastik ist von Bedeutung. An künstlerischem Material wird es Reifenberg wohl noch für geraume Zeit nicht mangeln.— Kristina von Bülow
¹ Vgl. Goedeke, Lena von (2018): Neukalibrierung (Arctic Circle 2018), Lena von Goedeke (Hrsg.), Berlin, online auf http://vongoedeke.com/2018/10/26/neukalibrierung/ (aufgerufen am 7.11.18).
² In den 1950er Jahren waren es noch „nur“ 1,5 Millionen Tonnen jährlich. Siehe folgenden Link des Naturschutzbunds.
³ Vgl. Detloff, Kim Cornelius (2018): Plastikmüll und seine Folgen, Naturschutzbund Deutschland e.V. (Hrsg.), Berlin, online auf https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/muellkippe-meer/muellkippemeer.html (aufgerufen am 7.11.18).
⁴ Vgl. Wikipedia (2018) (Hrsg.): Plastiktüte, online auf https://de.wikipedia.org/wiki/Plastiktüte (aufgerufen am 7.11.18).
⁵ Mit dieser Wortschöpfung bewarb in den frühen 1990er Jahren ein internationaler Getränkekonzern die damals innovative PET-Mehrweg-Flasche. Das Wort hat es inzwischen sogar in den Duden geschafft.