Zeitsprung
Seit es Geschichte gibt, im Sinne des Erzählens der Vergangenheit, gibt es ebenso den Versuch, eine „Geschichte von Morgen“ zu erzählen, den Versuch, das Zukünftige zu erschließen und vorherzusagen. Dieses Nachdenken über die Zukunft, die selbstverständlich nie genau vorhersehbar ist, ist dadurch immer mehr eine Reflexion der Vergangenheit und Gegenwart: Vom Orakel von Delphi der Antike bis zu Prognoserechnungen zu Epidemieverläufen in der Gegenwart, ist es das den Ist-Zustand beschreibende „Erkenne dich selbst“, das gesellschaftliche Vorhersagen möglich und sinnvoll macht. „Besonders wichtig ist […], dass diese Prognose weniger eine Prophezeiung als vielmehr eine Diskussion über unsere gegenwärtigen Wahlmöglichkeiten sein soll. Wenn die Diskussion dazu führt, dass wir uns anders entscheiden und die Prognose sich damit als falsch erweist, umso besser. Denn was hätten Prognosen für einen Sinn, wenn sie nicht alles verändern könnten?“ schreibt Yuval Noah Harari in seiner Zukunftsanalyse „Homo Deus“. Ebenso beschäftigt sich auch (Pop-)Kultur von dystopischen und Science-Fiction Romanen von George Orwell oder Margaret Atwood bis hin zu Roland Emmerichs Hollywood-Katastrophen-Porno über das Medium der Zukunftsbeschreibungen in erster Linie mit zeitgenössischen Problematiken politisch-gesellschaftlicher beziehungsweise ökologischer Natur.
Die Ausstellung „Nachwelt“ setzt die Prämisse der Zukunft nach einer dystopischen Katastrophe, in der menschliche Relikte und Artefakte die einzigen Zeugnisse unserer Existenz sind. Die vier Künstler:innen der Ausstellung, Franziska Klotz, Agnes Lammert, Jirka Pfahl und Ronny Szillo, reflektieren diese mögliche Nachwelt, gehen aber – wie alle Zukunftserzählungen – in erster Linie über eine Reflexion der Gegenwart in die Gedankenwelt der Zukunft.
Die Serie „Work in Progress“ von Ronny Szillo zeigt diese zukünftigen menschlichen Artefakte. Er imaginiert darin ein Szenario der Zukunft, in der die Überreste unserer Zivilisation gefunden werden. Wenn wir versuchen, uns durch Grabfunde und Verzierungen von Keramikscherben vergangene menschliche Zeitalter vorzustellen, was würden die Zukünftigen aus zu Fossilien gewordenen Handys, Sneakern oder Fidget-Spinnern über uns schließen? Künstlerisch befragt Szillo in seinen Fossilien die „schöne neue“ digitale Welt, versucht die dort verhandelten Themen und ihre eigenständige Ästhetik aber gleichzeitig zurückzuführen ins „IRL“, das reale und vor allem haptische Leben.
„Work in Progress“ denkt den bloßen Abdruck moderner Fossilien weiter, indem er nicht abbaubare Produkte wie Kunststoffzahnbürsten oder Sneakern, die auch ohne einen Abdruck zu hinterlassen uns Nutzende überleben werden, mit keramischen und künstlerischen Artefakten zu Assemblagen zusammenfügt. Besonders die Auseinandersetzung mit klassischen bildhauerischen Sujets wie Ton oder Gussmaterialien, bei gleichbleibender inhaltlicher Bearbeitung zeitgenössischer Themen, ist elementar prägend für sein Arbeiten. In der ausgestellten Serie collagiert Szillo industriegesellschaftliche Massenprodukte wie Zahnbürsten, Essstäbchen oder Turnschuhe in Beton, besonders der Sneaker zieht sich dabei durch Szillos Werk wie – um im Bild der Archäologie zu bleiben – ein modernes Leitfossil. Szillo tritt damit in die Tradition der Wegbereiter der Pop Art wie Robert Rauschenberg oder Claes Oldenburg, die in ihren Materialobjekten ebenfalls Produkte urbaner Zivilisation verarbeiten, ihre Aufmerksamkeit aber – auch in Abgrenzung zu Zeitgenossen wie Warhol oder Indiana – auf das „Verbrauchte und Ausgesonderte“ richten, wie Klaus Honnef es beschreibt. Ronny Szillo bedient sich damit einer im 20. Jahrhundert tradierten Ästhetik, die er mit zeitgenössischen Fragestellungen anreichert und kritisch ins 21. Jahrhundert überführt.
Auch die Malerei von Franziska Klotz setzt sich mit den Themen Erinnerung und Zukunft und ebenfalls mit archäologischen Funden auseinander. Die Arbeit „Tür“ ist auf den ersten Blick ein Bild im Bild: auf einer Tür oder Wand, mutmaßlich in einem Atelier, hängen etwa ein Dutzend Porträts dunkelhaariger Frauen, skizzenhaft auf Papier gemalte Büsten und Kopfbilder en face, die mit Klebestreifen zusammen mit Landschaftsskizzen, Miniaturen und einer Buchseite als Ideensammlung und Inspirationsquelle in ein Interieur gehängt sind. Die Frauen auf den Bildern sind keine Zeitgenossinnen der Künstlerin oder von ihr imaginierte Personen, sondern antike Römerinnen, die für ihre Mumien Porträts auf dünnen Holztafeln von ägyptischen Malern anfertigen ließen. Das zunächst gesehene Bild im Bild verwandelt sich in ein Bild im Bild im Bild, ein dreifach gemaltes Porträt, ein 2000 Jahre währendes Mise en abyme. Und auch die Dargestellten sind in doppelter Hinsicht in der Nachwelt angekommen. Durch ihre Mumifizierung wurden sie auf das Leben nach dem Tod vorbereitet und befinden sich gleichzeitig in einer für die Antike wahrscheinlich noch unmöglicher vorzustellenden Nachwelt, 2000 Jahre später in der Zeit.
Die Arbeit von Franziska Klotz ist ein Nachdenken über das Medium der Malerei und die Verantwortung der bildenden Kunst für zukünftige Generationen: Obwohl keine der dargestellten Frauen namentlich bekannt ist, häufig nicht mal der Ausgrabungsort oder -kontext überliefert sind, sind sie durch ihre lebensnahe Erscheinung wichtige Zeuginnen unserer Vorstellung von Geschichte und Kunst, die nicht nur die Porträtierten überlebt, sondern in der Lage ist, ihre Gegenwart in unsere Zukunft zu tragen. Auch die anderen Malereien der Ausstellung thematisieren die Überführung von Gegenwärtigem in eine mögliche Zukunft. „The Purloined Letter“ zeigt die Rückseite eines Briefumschlags, malerisch auf ein Vielfaches vergrößert, dessen einzige Zuordenbarkeit eine unleserliche Absenderadresse ist. Besonders in seiner zerknitterten Form ist auch der Brief ein Zeugnis der Vergangenheit und – in der Kunstgeschichte – Symbol für die Überführung des Geschriebenen über den Tod hinaus. Auch die in einen nebulösen Hintergrund laufende „Moorbrücke“ lässt sich symbolisch als Weg in eine Nachwelt deuten. Die figurative Malweise von Franziska Klotz, die abstrakte Flächen und Unschärfen zulässt, unterstützt die transformative Atmosphäre ihrer Sujets.
Während Franziska Klotz die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und so eine mögliche Zukunft entwirft, arbeitet Jirka Pfahl mit einem gerade in der Gegenwart angekommenen Medium, das sich in der Kunstwelt trotzdem wie Zukunftsmusik anhört. Mit dem finanziellen Erfolg, besonders auf internationalen Auktionen, sind NFTs (Non-fungible-Tokens) seit 2020 im Allgemeinwissen der Kunstwelt angekommen. Jirka Pfahl adaptiert die künstlerischen Strategien, die er bislang in seinen „Faltungen“ in Papier umgesetzt hat, geometrisch angelegte Kompositionen, die an architektonische Fassadenelemente im Bau- oder Formsteinprinzip erinnern, als NFT für den digitalen Raum. Die in diesen Papierarbeiten angelegte künstlerische Fragestellung, changierend zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, die sich mit den Grenzen von Skulptur und Bild und gleichzeitig mit der klassischen Materialität dieser auseinandersetzt und sie hinterfragt, bekommt damit eine weitere, digitale Dimension.
Die Frage nach dem „Überleben“ von Kunstwerken als menschliche Artefakte wird, in ein potenziell unendliches Medium überführt, größer und dringlicher, hinterfragt aber gleichzeitig, ob die digitale Form im Falle einer dystopischen Katastrophe – wie sie das Gedankenspiel dieser Ausstellung voraussetzt – wirklich langfristig dem Analogen überlegen wäre: Wenn die Dinosaurier vor 70 Millionen Jahren Smartphones und die zugehörigen Datenbanken gehabt hätten, könnten wir das, anders als ihre durch Knochenfunde gesicherte Existenz, nicht nachweisen. Und trotzdem zeigt Jirka Pfahl innerhalb seines Ordnungssystems, das sich als Algorithmus programmiert unendlich variieren kann, die neuen und zukünftigen Möglichkeiten innerhalb der Kunst, die, vom Menschen angestoßen, eigenständig variieren und wachsen kann.
Agnes Lammerts „Schwere“ wirft ebenfalls die Idee der den Menschen überdauernden Kunst auf. Ein Bündel hängt von der Decke, zu sehen ist auf den ersten Blick eindeutig der Körper eines Menschen, der sich kleinmacht, die Knie an die Brust zieht. Kopf, Rücken, Beine und Füße formen sich augenscheinlich unter einer den Körper tragenden Stoffbahn ab. Der die Körperform umhüllende Faltenwurf zeigt dabei vielmehr das, was nicht vorhanden ist, nämlich einen Menschen. Das Verhüllen mit Stoff betont das Darunterliegende, konzentriert sich auf das Wesentliche und macht es dadurch sichtbar. In der katholischen Kirche wird das Kruzifix vor Ostern verhüllt und verehrt, die Konzentration auf das, was darunter geschieht wird innerhalb des Kirchenjahres dadurch maximal gesteigert. Bei Auguste Rodins „Denkmal für Balzac“ wird der Körper vollständig durch einen Mantel verdeckt – beziehungsweise ersetzt - und auch die klassischste aller Skulpturen, die Nike von Samothrake, ist in ihrer heutigen Gestalt, ohne Kopf und Arme, reiner Faltenwurf. Die Abwesenheit des Körpers in der Skulptur ist zugleich die Konzentration auf den Menschen und, in einer potenziellen Nachwelt, sein Fehlen.
Diese Gegensätze bestimmen das Werk von Agnes Lammert: Die Abwesenheit des Menschen in der Nachwelt trifft auf die Notwendigkeit sich beim Betrachten ihrer Arbeiten körperlich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn die Kunst den Menschen also überleben sollte, was ist sie dann noch Wert ohne den Bezug zu ihren Betrachter:innen? Und: Kann Kunst ohne das Gegenüber des Menschen überhaupt als solche bezeichnet werden? Diese metaphysischen Ambivalenzen von Schrödingers Kunstwerk in der Nachwelt werden in den Arbeiten von Agnes Lammert deutlich. In ihnen zeigen sich gleichsam Schwere und Leichtigkeit, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Materialbeschaffenheit und -wirkung, das Vorhandene und bewusst Weggelassene.
Die vier künstlerischen Positionen der Ausstellung „Nachwelt“ zeigen in ihren unterschiedlichen Ansätzen die zentrale Stellung des Menschen, selbst in einer dystopischen, nachmenschlichen Zukunft, und untermalen das humanistische Credo, nachdem sich das Universum geistig um die Menschheit dreht. Das Anthropozän, das Zeitalter der Menschen, wird von ihnen im retrospektiven Futur II analysiert: Der Mensch wird gewesen sein, was wird aus seinen Relikten, was wird aus der Kunst? Und warum interessiert uns das überhaupt, wenn es sowieso keine Zeug:innen dieses Zustandes geben wird? Die Distanz zur eigenen Gegenwart wird über die Analyse dieses postapokalyptischen Zustandes möglich und birgt die Möglichkeit einer Reflexion des Menschen in der Gegenwart.
– Sophia Pietryga